St. Martin ist schuld
Ich finde es wirklich schön, daß unseren Kindern die Taten und Wunder der Heiligen weitergegeben
werden. Daß unseren Kindern unermüdlich beigebracht wird, was gut und was schlecht ist, damit
sie lernen, sich danach zu richten.
Auf den Alltag bezogen bedeutet es allerdings, daß man selbst als Elternteil ständig
von den eigenen Kindern hinterfragt und von kinderlosen Erwachsenen wahlweise bemitleidet oder
belächelt wird, wenn man nicht sogar als Störfaktor wahrgenommen wird.
Letzteres gilt für Eltern, die es sich wagen, zu den Zeiten in Supermärkten aufzutauchen,
die der kinderlosen Bevölkerung vorbehalten sind und damit irre Verzögerungen von knapp 2,4
Minuten verursachen. Was übrigens nur wegen der Quengelware an der Kasse geschieht und weil
wir hier in der Service-Wüste Deutschland wohnen, in der die Verkäuferinnen ohne mit der
Wimper zu zucken den pädagogisch sinnlosen, aber nervenschonenden Dosenmampf auf die holländischen
Wasser-Tomaten schmeissen, statt einem die Sachen noch lieb in Taschen zu packen.
Rolf und unsere Feinde haben unseren Kindern viele fröhliche Lieder mit auf den Weg gegeben, die
sie genau wissen lassen, was nun die Kinderlosen an Ampeln und Bahnübergängen falschmachen.
Ein
Mama, weshalb geht die bei rot?, darf man keinesfalls mit
damit sie die Bahn noch bekommt,
die wir nun verpassen, weil wir hier an einer Ampel stehenbleiben, obwohl weit und breit kein Auto zu
sehen ist! beantworten.
In solchen Fragen habe ich mittlerweile schon meine Routine.
Hilflos bin ich in Fragen, die wohl jeder gerne totschweigen möchte.
So gibt es an unserer Strassenbahnhaltestelle gleichzeitig eine Bushaltestelle mit kleinem, überdachten
Wartehäuschen mit einer einzelnen Bank darin. Direkt daneben ein kleiner Kiosk. Was liegt nun
näher, als daß sich im Bushäuschen nun regelmässig nette, fröhliche hm,
Alkoholiker treffen, die dort den ganzen Tag miteinander verbringen?
Da ich den Bus kaum benutze, war das nicht mein Problem - und überhaupt, irgendwo müssen
diese Menschen doch hin?! So war ich tief empört, als die Räumungsaktionen rund um den
Dom liefen. Dass ausgerechnet die Kirche so rigeros gegen Menschen vorgeht, die nicht wissen wohin sie
sonst sollen.
Die Fahrgäste hatten weniger Verständnis, aber die Stadt eine gute Idee - flugs wurden
entlang eines lauschigen Weges am Rande der Strassenbahnlinie Bänke aufgestellt und diese wurden
auch sehr wohlwollend aufgenommen.
Auf der ersten Bank treffen sich seither die postbubertären Bewohner unserer Siedlung, während
sich auf der nächsten Bank die meist alkoholisierte Clique mit ihren Hunden versammelt.
Politisch korrekt ist es, für diese Menschen Verständnis zu haben. Habe ich auch. Zumindest
will ich keinesfalls in der Schublade jener landen, die es ganz offensichtlich nicht haben. Aber ein
mit St. Martins edlen Taten gedoptes Kind, kann dieses Verständnis sehr geschickt hinterfragen.
So ergab sich eines Tages das Problem, daß ein neuer Hund zu der Clique stiess. Einer von der
fröhlichen
er will nur spielen-Sorte, der prompt zu Oliver in den Buggy sprang, was zu
Nasenbluten führte. Mütter mögen es einfach nicht, wenn ihre Kinder plötzlich Blut
im Gesicht haben und Mütter, die zudem keine Hunde mögen, sind da besonders verständnislos.
Jedenfalls fand ich mich im nächsten Moment in einer Situation wieder, in der ich einer jungen
Blondine mit Nasenpiercing und Bierflasche erklärte, sie solle ihren blöden Köter gefälligst
anleinen, wenn er nicht hören könnte.
Keinesfalls diplomatisch erklärte sie mir, was ich mit meinem blöden Blag machen sollte.
Erfüllt mit gerechtem Zorn sagte ich ihr, daß ich nun umgehend die Polizei rufen würde.
Immerhin hatte Oliver nun Nasenbluten - ich könnte behaupten, der Hund habe ihn halbtot gebissen!
Nun, mir war dennoch nicht wohl bei dem Gedanken, denn Hundi hatte keine Steuermarke gehabt und
irgendwie war mir nicht wohl bei dem Gedanken, daß Blondie künftig ohne ihren Hund auf
der Bank herumsäße.
Also machte ich mir einen richtig guten Kaffee, freute mich noch einmal ganz bewusst daran, daß
ich gemütlich daheim sitzen und mir einen ganz besonders guten Kaffee machen konnte, statt mit
meinen Kumpels auf Bänken herumzulungern und beruhigte mich wieder.
Am nächsten Tag sprang mir der Hund wieder in den Buggy und ich zog DIE Konsequenzen - wann
immer ich sehe, daß Hundi vor der Bank lauert, nehme ich einen anderen Weg.
So weit, so gut. Nur habe ich da noch Michaela, die sich schon wundert, weshalb wir mal so und mal
so herum gehen.
Wegen der Bettler? fragte sie.
das sind keine Bettler erklärte ich
die sehen aber aus wie Bettler!
Am besten kommt man durch, wenn man Kinderfragen möglichst sachlich beantwortet, deshalb erklärte ich,
daß Bettler, Bettler sind, weil sie um Geld betteln und dies dort also keine Bettler seien.
Wobei ich ganz sicher bin, daß man ebenso wenig Bettler sagen darf, wie man Inuit Eskimos
nennen darf. Politsch korrektes Deutsch ist schwer...
Na, und dann schlug St. Martin zu. Hätte er denen denn nun seinen halben Mantel gegeben, oder nicht?
Ich sah sie einen Moment verblüfft an und meinte, es käme doch darauf an, ob sich jemand in
Not befände zu erfrieren. Ausserdem ging es bei St. Martin doch um einen
armen Mann.
Er könnte doch schon deshalb ein armer Mann sein, weil er so fror, faselte ich.
Also, folgerte meine Tochter, hätte er denen auch seinen halben Mantel gegeben. Aber wem von denen?
Ich seufzte leise.
Würdest du denn auch für Leute singen, die dir keine Süssigkeiten
geben? fragte ich listig
nur um ihnen eine Freude zu machen?. Sie hätte aber doch von
allen Süßigkeiten bekommen, antwortete sie ausweichend.
Wie wäre es denn, wenn du
die nun mit den Leuten dort teilen würdest?, fragte ich weiter.
Sie teilt mit Oliver und ihren Freunden, ausserdem habe ich ein Päckchen Haribo abbekommen - von
Süssigkeiten haben die im Kindergarten nichts gesagt und ich auch nicht. Nirgendwo in der ganzen
St. Martinsgeschichte steht was über Süssigkeiten...
Ich überlege jetzt, wie ich ihr vermittle, daß Bettler nicht scharf auf halbe
Mäntel sind, sondern es eher um den Gedanken des Teilens, Teilhaben lassens geht.
Vielleicht bekommen wir das bis zum Frühling hin, denn derzeit haben die Bänke eine
kältebedingte Winterpause.